Die verwitwete Mutter Alfred Herings, Meta, geb. Franke, war der Bauherr, Initiator und die treibende Kraft sofort nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Hausneubau zu beginnen. Es fehlte an allem 1945 und 1946, jedoch gelang es mithilfe von Material und einer heute unglaublichen Großzügigkeit und Gutmütigkeit von befreundeten Bauern des Zwickauer Umlandes das Haus zu bauen. 1946 wurde Richtfest gefeiert.
Siebzig Jahre später ist es schwierig sich in die Zeit hineinzudenken. Der Überlebenswille, Erfindergeist, ungebrochener Glauben ans Leben an sich und natürlich Selbstbestimmung hatten meine Urgroßeltern und Großeltern getrieben Dinge zu schaffen, die unmöglich schienen. Johannes Mario Simmel hat in seinen Büchern, insbesondere in „Hurra, wir leben noch“, die Stimmung und den Drang der Zeit beschrieben, die dann von Rainer Werner Fassbinder in „Die Ehe der Maria Braun“ und auch in „Lola“ visuell gestaltet wurde.
Obwohl es nicht direkt hierher gehört, aber die Geschichte von Häusern, Schlössern, Burgen ist vor allem Geschichte von Menschen. – Peter Franke, Photobuchautor und professioneller Photograph, vor allem bekannt durch seine hervorragenden Bücher über Leipzig, ist ein Nachkomme der Familie Franke, aus der meine Urgroßmutter stammte. – Leben und Liebe.
Es war das erste Haus in der Innenstadt, das nach dem Krieg neu erbaut wurde. Grund genug es unter Denkmalschutz zu stellen.
Zuerst wurden die Geschäftsräume ausgebaut, so dass es mit dem Handel der Firma Hering weitergehen konnte. Dann folgten die erste und die zweite Etage. Die dritte Etage wurde erst in den 60erJahren fertiggestellt.
Ich kann mich lebhaft daran erinnern wie meine Großmutter Linda, Kind eines Zwickauer Rittergutsbesitzers, auf ihrem Rücken die Ziegeltrage voll mit Ziegeln in die 3. Etage schleppte. Zu dem Zeitpunkt war sie über 60 Jahre alt. Wir Kinder dagegen hatten gerade mal drei Ziegel auf jeder Armseite getragen. Linda war eine emanzipierte resolute Frau. Es gibt die Geschichten aus ihrer Jugendzeit, dass sie auf dem Pferd die Reinsdorfer Straße hinein in die Stadt ritt, um meinen späteren Großvater Alfred Hering zu besuchen, obwohl sie eigentlich in dessen Bruder verliebt war, der in Frankreich im Ersten Weltkrieg fiel. Oder, sie rollte Käse den Knappengrund hinunter zu den Händlern der Stadt. Ein Liebhaber landete mit einem der ersten Flugzeuge auf den Feldern ihrer Familie. Es war ein aufgeregtes Leben.
Ich verdanke ihr nicht nur mein Leben, sondern auch Stunden am Klavier, Kochinstruktionen, Autofahrten in unserem DKW Cabriolet, und jede Menge Lebenseinstellung.
Die Zerstörung des ursprünglichen Hauses erfolgte im März 1945 durch amerikanische Bomben. Die Bombe traf den Hinterhof. Es war Mittagszeit. Die Sirene heulte und alle rannten die Treppe hinunter in den Keller. Meine Mutter sollte das Gas am Herd abdrehen und war die Letzte. Sie fiel mit der Kellertür im Rücken die Kellertreppe hinunter. – Alle überlebten, so aber nicht die Menschen im Keller des Nachbarhauses, das ebenfalls auf der Rückseite getroffen wurde. Meine Familie kaufte das zerbombte Nachbargrundstück; so erklärt sich heute die Doppelhausnummer 22/23.
Die Verbindung zu den Bauern der umliegenden Ortschaften entstand nicht erst durch die Heirat mit einer Gutsbesitzertochter, das war eher eine Folge der geschäftlichen Tätigkeit der Familie Hering. Die hatte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts von der Theologie dem Handel zugewandt. Vorher war sie seit dem 16. Jahrhundert eine evangelisch reformierte Pfarrerfamilie, die im Vogtland, Zwickau und zuletzt in Reinsdorf tätig war.
Zu dieser Vergangenheit ist eine Verbindung heute wieder am Haus zu bestaunen. Eine Bronzeplakette weist auf den Besuch von Martin Luther im April und Mai 1522 hin. Dieser hatte auf Einladung vom Balkon des Rathauses Reden an die Bürger gerichtet und um Frieden gebeten, den ein Teil der Bürgerschaft durch Thomas Müntzers sozialchristliche Predikten in der Katarinenkirche im Jahr davor, gestört sah. Die Stadt entließ Müntzer. Das führte zu seiner Radikalisierung und ließ ihn zum Führer des Bauernkrieges werden. Martin Luther, der unter dem Schutz des sächsischen Kurfürsten stand und ein Freund des damaligen Zwickauer Bürgermeisters war, wurde während seines Aufenthaltes auf dem Grundstück (jetzt Hauptmarkt 22/23) beherbergt (siehe "Martin Luthers Aufenthalt in Zwickau im Jahr 1522" von Dr. Michael Löffler in "Martinus halbenn..." Zwickau und der reformatorische Umbruch, 2016, S. 63-70, Verlag Stadt Zwickau, Stadtarchiv). 2018 wurde von der Stadt Zwickau eine neue zusätzliche Luthertafel im allgemeinen Stil des "Lutherwegs" am Haus angebracht.
Luther hinterließ einen starken Eindruck. 14.000 Menschen, das waren erheblich mehr als die gesamte Bevölkerung der Stadt, sollen ihm auf dem Hauptmarkt zugehört haben. Das ist heute durchaus mit der Menge an Zuhörern eines überregionalen Rockkonzerts vergleichbar. Das hatte Konsequenzen. Deutsch wurde ab 1524 als Sprache in den Kirchen Zwickaus eingeführt, ab 1525 gab es in dieser Stadt keine lateinischen Gottesdienste mehr. Zwickau war damit nach Wittenberg die zweite Stadt in dem Land das wir heute unter Deutschland verstehen, die sich vom päpstlichen Diktat befreit hatte. In Zwickau wurde der Machtkrieg zwischen Müntzer, der zunächst ein Freund war, und Luther mit Worten ausgefochten. Luther gewann und installierte eine neue Kirchenmacht, gegen deren Anfänge Müntzer und die von Luther abfällig genannten „Zwickauer Propheten“ sich wehrten.
Das Haus ist im Denkmalverzeichnis als Hering’sches Haus eingetragen. Ein Grund dafür liegt in der Erfolgsgeschichte der Firma Paul Hering, die im Haus 23 1860 gegründet wurde. Von einer Materialwarenhandlung entwickelte sie sich sehr rasch zu einer Kolonial-und Tabakhandlung, durch die Waren nach Zwickau gebracht wurden, die vorher unbekannt waren. Auch kamen die exotischen Händler mit ihren dunklen Hautfarben und fremden Trachten nach Zwickau. Der Aufgeschlossenheit meiner Familie ist es zu verdanken, dass schon 1872 Düngemittel wie Thomasmehl, Kalisalz und Kalisalpeter in Zwickau verkauft wurden. Die Bauern sahen innerhalb eines Jahres den Düngemittelerfolg bei der Ernte und der Ruf der Firma war begründet. Es war ein radikaler neuer Ansatz um den Ernteertrag zu vergrößern, der damals durch die Bevölkerungsexplosion dringend notwendig war.
Vorher, 1868, aber mit wesentlich langsameren Erfolg, bot Paul Hering als erster in einem Geschäft Versicherungen aller Art an. Die Vorreiterrolle wurde fortgesetzt mit der Gründung einer Niederlassung der Erzgebirgischen Landwirtschaftsbank und einer Kreditvermittlungsstelle außerhalb des Bankensystems. Dann kam noch die Alleinvertretung der Hamburg-Amerika-Schiffslinie in Westsachsen dazu. Als Lotteriespiele öffentlich verkauft werden durften, war es die Firma Hering, die das in Zwickau begann.
Noch vor dem Ersten Weltkrieg expandierte die Firma in die Breithauptstraße, weil sich dort ein Gleisanschluß erwerben ließ, der es ermöglichte direkten Großhandel mit Saatgut und Düngemittel zu betreiben. Nur durch typisch sächsische und bäuerliche Gemeinsamkeit wurde die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg überstanden. Der Name Hering hatte Gewicht in der Stadt Zwickau. Vertrauen wurde in guten und in schlechten Zeiten geschaffen. Als dann die Bombardierung am 19. März 1945 erfolgte, die sowjetische Besatzung und die Enteigung nachfolgten, war die Familie auf die Hilfe derjenigen angewiesen, denen sie vorher geholfen hatte. Lebenslange Freundschaften trugen ihre Früchte des Erfolges, ein größeres Haus wurde 1946 aufgebaut.
Natürlich wurde in das Haus eine Riesenmenge Hoffnung mithineingebaut. Die wurde jedoch nicht unwesentlich enttäuscht. Die Enteignung wurde Schritt für Schritt vorangetrieben. Die Firma wurde halbstaatlich.
Eine der drei Hering’schen Töchter heiratete einen nicht-verwandten gleichnamigen Herrn Hering. Der Sohn aus dieser Ehe setzte nach dem Fall der Mauer privat das Geschäft auf einer wesentlich kleineren Basis bis Juli 2011 fort. Er kündigte seinen Gewerbemietvertrag ein Jahr vor Vertragsende und beendete damit die Firmengeschichte. Die Gewerberäume sind nunmehr langfristig an die Firma Barrique vermietet.
Das Haus war immer im Besitz der Familie. Der älteste Enkel von Alfred und Linda Hering, der auch in diesem Haus geboren wurde, besitzt seit Mitte Juli 2015 das Haus.
Wolfgang Gowin, Fotos aus Familienbesitz, außer März 1945